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Die Industrialisierung und ihre Folgen in Deutschland

Im 19. Jahrhundert fegt eine technologische Revolution durch Deutschland. Sie verändert und beschleunigt das Leben der Menschen in nie gekanntem Ausmaß. Stahlbarone und Eisenbahnkönige sind die Herren dieser neuen Zeit. Doch der Vormarsch der Maschinen bringt vielen auch schlechtere Lebens-und Arbeitsbedingungen. Die Lösung der sozialen Frage wird zur größten Herausforderung des Industriezeitalters. Mit der Industrialisierung einherging auch ein enormer Hunger auf Eisen und auf Stahl. Um die riesige Nachfrage zu bedienen, entstanden gigantische Bauwerke wie die Völklinger Hütte. Sie ist das weltweit einzig erhaltene Eisenwerk aus der Blütezeit der Industrialisierung. Die nach der Gründerfamilie benannten Röchlingschen Eisen-und Stahlwerke machten das saarländische Völklingen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Schwerindustrie. Die Geschichte der Völklinger Hütte ist Teil einer Entwicklung, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit abgespielt hat. Dampfkraft treibt Maschinen an, Eisenbahnen verbinden Städte, Schwerindustrie entsteht. Innerhalb weniger Jahrzehnte werden Land und Leute buchstäblich in die Zukunft katapultiert. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Angesichts von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz, Robotik, sprechen viele auch von einer Industrialisierung 4.0, die uns bevorsteht. Wie das das Land verändert und was das mit den Menschen macht, genau das zeigt uns die Geschichte der Industrialisierung in Deutschland. Besonders deutlich zeigt sich dieser Umbruch im Ruhrgebiet. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine fast unberührte Naturidylle. Ein Augenzeuge schwärmt. Nicht satt sehen konnte ich mich an der saftig frischen Vegetation, den prachtvollen Eich-und Buchenwäldern. Einige Jahrzehnte später prägen statt üppiger Wiesen, Fabriken, Zechen und Schienen das Bild. Übrigens war schon den Zeitgenossen klar, dass die Zerstörung der Natur, die mit der Industrialisierung einherging, erhebliche Probleme mit sich bringt. Aber es gibt eben auch die andere Seite der Industrialisierung. Technische Neuerungen machen das Leben viel einfacher und bequemer. Revolutionäre Erfindungen, auch Verbesserungen in der Hygiene und in der Versorgung mit Lebensmitteln sorgen für Wohlstand und Wachstum. In jedem Fall ist die Industrielle Revolution eine der größten Umwälzungen in der Geschichte der Menschheit. Auch dort, wo man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde, hinter der Fassade von Schloss Neuschwanstein, die das Mittelalter beschwört, verbirgt sich in Wirklichkeit Industriearchitektur. Bauherr war der bayerische König Ludwig II. Heute kennt man ihn als verträumten Märchenkönig. Aber Ludwig II. war auch ein absoluter Technikfreak. Und das war auch dringend nötig, denn ohne modernste Technik wäre der Traum vom Märchenschloss ziemlich schnell zerplatzt. Schon auf der Baustelle kommen neueste Erfindungen zum Einsatz. Dynamit, um die Bergspitze abzusprengen. Und ein dampfbetriebener Lastkran. Auch die königlichen Gemächer werden mit allen technischen Errungenschaften der Zeit ausgestattet. Wie einer batteriebetriebenen Klinge. Von dieser Signaltafel können die Diener dann ablesen, aus welchem Zimmer sie gerade gerufen wurden. Direkt neben Ludwigs Arbeitszimmer geht sogar die erste Telefonanlage Bayerns in Betrieb. Allerdings mangels Leitungen kann man damit zuerst mal nur die benachbarte Telefonstation im Schloss Hohenschwangau erreichen. Wohnen im Stil der alten Ritter. Aber mit deutlich mehr Komfort als auf einer Burg des Mittelalters. Für Ludwigs Architekten eine echte Herausforderung. Das Geheimnis steckt hinter der Fassade. Herr Schlimm, Neuschwanstein wurde gebaut in der Zeit der Industrialisierung. Modernste Technologien kamen da zum Einsatz. Wie hat sich das ausgewirkt auf den Bau? Die moderne Technik brauchte man vor allen Dingen hier in Schloss Neuschwanstein, weil der König sehr oft Änderungen wünschte. So auch bei diesem Saal hier. Dieser riesengroße Thronsaal sollte ja gebaut werden in einer Höhe, wo drunter noch Hohlräume sind, sprich große andere Räume. Um das zu bewegstelligen, musste man auf die moderne Industrialisierungsmethode der Eisenkonstruktion zurückgreifen. Man hat dann unter diesen Saal große Doppelt-T-Träger eingezogen. Auf diese Doppelt-T-Träger wurden dann diese Metallsäulen draufgesetzt. Das ist nämlich kein voller Porphyr, sondern nur Metall, der dann außen verkleidet ist mit Gips und eben dann die Farbgebung. Das Ganze sieht sehr massiv aus, wie eine sehr massive romanische Kapelle, wenn man so will. Und in Wirklichkeit ist es eine sehr, sehr leichte Stahlkonstruktion, die einfach nur kaschiert ist. Lauter moderne technische Errungenschaften, ohne die unser heutiger Lebensstil kaum denkbar wäre. Dabei war Deutschland, wenn man es mit dem Mutterland der Industrialisierung vergleicht, ein echter Nachzügler. Die Nummer 1 in Sachen Innovation ist damals Großbritannien. Kein Land setzt früher auf Maschinen und Fabriken als das britische Königreich. Und das nicht zuletzt dank einer epochalen Erfindung. Die vom Schotten James Watt verbesserte Dampfmaschine wird zum Motor des Waldes. Altbekannte physikalische Phänomene werden auf geniale Weise dienstbar gemacht. Feuer erzeugt in einem Kessel Wasserdampf, der in einen Zylinder geleitet wird. Der hohe Druck des Dampfs bewegt einen Kolben, der wiederum ein Schwungrad antreibt. Damit lassen sich ganz unterschiedliche Maschinen bewegen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind die Briten noch die einzigen, die erfolgreich diese dampfgetriebenen Kraftmaschinen bauen. Entsprechend groß ist das Staunen, als James Watt Junior, der Sohn des Erfinders, 1817 mit seinem Dampfschiff Caledonia den Rhein hinaufgeschippert kommt. Bis auf der Höhe von Wesel ein Maschinenschaden die Fahrt abrupt stoppt. Ein sogenannter Bollosier ist gebrochen und muss repariert werden. Für den Stärkrader-Unternehmer Franz Haniel die unverhoffte Chance, endlich eine Dampfmaschine aus nächster Nähe studieren zu können. Schließlich muss alles genau geprüft werden, damit das benötigte Ersatzteil auch wirklich passt. Auch solche kleinen Zufälle tragen zur Industrialisierung Deutschlands bei. Und bald sorgt die maschinell genutzte Dampfkraft dann auch bei uns für neuen Schwung in der Wirtschaft. Was sich mit der Kraft des Wasserdampfs alles anstellen lässt, sieht man im siegerländischen Freudenberg. Vor mehr als 100 Jahren wurde hier, damals für eine Leimfabrik, eine zentrale Dampfmaschine installiert. Über diese Transmission mit großen Gelenkwellen treibt sie eine komplette mechanische Werkstatt an. Fräsmaschinen, Bohrer, Sägen. Insgesamt 25 Werkzeuge gibt es hier und das Erstaunliche ist, die funktionieren immer noch. Also vorher hat man das alles in Handarbeit machen müssen und jetzt ging alles durch die Maschinen, schnell, günstig. Hat aber natürlich auch was mit den Leuten gemacht, die dann an solchen Geräten gearbeitet haben. Wie war das denn für die jetzt plötzlich sowas hier zu machen? Es war ein großer Umbruch, denn früher hatte man... Handwerksbetriebe, wo Gesellen gelernt hatten und jetzt brauchte man das in dem Sinne nicht mehr. Man konnte jemanden an die Maschine stellen, er konnte die Maschine bedienen. Man brauchte hier gar keine Ausbildung im Grunde, sondern nur eine Anleitung. Man hat aber dann auch auf aufgrund dessen sehr geringe Löhne gezahlt. Die Tagesarbeitszeiten wurden immer länger. Es ist sehr belastend gewesen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wächst die Bevölkerung Deutschlands stark an. Landwirtschaft bietet für die vielen Menschen nicht mehr genügend Auskommen. Aus Not werden viele Bauern zu Heimarbeitern und verwandeln ihre Wohnräume in Arbeitsplätze. Ein sogenannter Verleger stellt Material und Werkzeug und holt die fertigen Produkte später wieder ab. Parallel dazu entstehen Manufakturen. Statt ein vollständiges Produkt herzustellen, übernimmt jeder Arbeiter hier nur wenige spezialisierte Handgriffe. In den neuen Fabriken wird dieses Prinzip der Arbeitsteilung auf die Spitze getrieben. Jetzt bestimmen Maschinen den Rhythmus der Arbeit. Arbeit und sorgen dafür, dass die Produktivität immer weiter ansteigt. Doch gegen den Vormarsch der Maschinen formiert sich auch Widerstand. So wie 1821 im damals preußischen Eupen. Als ein Tuchfabrikant die erste mechanische Schermaschine in Betrieb nehmen will, fürchten die Anbieter, dass die Maschine nicht mehr so gut funktioniert. Tuchscherer um Brot und Lohn. Noch bevor die Maschine überhaupt aufgestellt ist, kommt es zum Aufstand. Soziale Konflikte wie der Maschinensturm in Eupen, auch sie gehören zur Geschichte der Industrialisierung. Am schnellsten hat sich die Industrialisierung in Großbritannien durchgesetzt. Denn dort waren die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen besonders günstig. Ganz anders in Deutschland. Jedes Land des Deutschen Bundes hatte damals ein eigenes Handelsrecht. Sogar eine eigene Währung. Und nicht einmal eine einheitliche Zeit gab es. Schlug es im Rathausturm in Aachen, 12 Uhr, zeigte die Uhr in Frankfurt schon 10 nach 12 an. In Dresden kurz nach halb eins. Mittag ist halt bei den... Und das ist je nach Längen gerade zu unterschiedlichen Zeiten. Von einem funktionierenden Binnenmarkt konnte da noch überhaupt keine Rede sein. Einer, der das ändern will, ist der Volkswirtschaftler Friedrich List aus Reutlingen. Als Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung hat er die Dutzenden innerdeutschen Zollschranken ausgemacht. Und zieht gegen sie zu Felde. Danke, dass Sie mich in dieser wichtigen Angelegenheit empfangen. Sehen Sie hier. Wenn man Handel treibt zwischen Hamburg und Österreich, hat man zehn Staaten zu durchqueren. Ein-und Durchfuhrzoll. Zehnmal zu bezahlen. Schauen Sie da. Königreich Hannover. Bezahlen. Kurfürstentum Hessen. Bezahlen. Überall wo Grenzen sind, bezahlen. Und wenn es nur das wäre, jede Ware wird anders verzollt. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. 1834 ist es dann soweit. Die ersten Zollschranken fallen. Aus 39 Kleinstaaten erwächst ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Der Deutsche Zollverein. Eine Freihandelszone von 30 Millionen Menschen im Herzen Europas. Damit kann die Industrialisierung auch bei uns endlich Fahrt aufnehmen. Und das ist die Schlüsseltechnologie der neuen Zeit. Die Eisenbahn. Im Vergleich mit unseren heutigen Hochgeschwindigkeitszügen sehen die Lokomotiven von damals doch aus wie Spielzeug. Aber das war das Neueste vom Neuesten. Hypermodern. Die Erfolgsgeschichte der Deutschen Eisenbahn beginnt 1835 mit der feierlichen Eröffnung der Bayerischen Ludwigsbahn. Die ersten Dampfloks mussten allerdings teuer aus dem Ausland importiert werden. Eine Eisenbahnindustrie gab es in Deutschland ja noch gar nicht. Die Sauerländer Kleinbahn bewahrt das Erbe der großen Zeit der Dampfrösser. Gemessen an den allerersten Loks ist dieses 100 Jahre alte Modell geradezu modern. Aber eins ist unverändert. Ohne Dampf keine Power. Am Anfang hatten viele Menschen noch Angst vor den dampfschnaubenden Drachen, wie die Lokomotiven wegen ihres Zischens und ihres Schnaubens oft genannt wurden. Es gab sogar Warnungen vor Hirnschäden oder vor Lungenentzündungen wegen des Fahrtwinds. Nur um das mal einzuordnen, wir sprechen von bis zu 30 Stundenkilometern. Übrigens, der Name Eisenbahn bezieht sich anfangs nur auf die Gleise, denn Lok und Waggons sind ursprünglich noch großteils aus Holz gefertigt. Schon bei der Einweihung der ersten Eisenbahnstrecke wurde mit Superlativen nicht gespart. Eine Erfindung. so wichtig wie der Buchdruck hieß es damals. Vogelgleich könne der Mensch große Entfernungen überbrücken und würde sich so immer mehr der Herrschaft über Raum und Zeit bemächtigen. Klingt aus heutiger Sicht ein bisschen dick aufgetragen, ein bisschen übertrieben, aber tatsächlich hat die Eisenbahn der Industrialisierung in Deutschland einen unglaublichen Schub gegeben. Die Eisenbahn macht buchstäblich der gesamten Wirtschaft Dampf. Auch der Berliner Maschinen... Dampfbauer August Borsig ist fasziniert von der neuen Technik. Als seine Eisengießerei den Auftrag erhält, englische und amerikanische Loks zu reparieren, studiert er ihre Konstruktion bis ins kleinste Detail. Borsig sucht gezielt nach Schwachstellen und beginnt daraufhin selbst eine Dampflok zu entwickeln. Den Kessel verkleidet er mit Filzplatten. Gut für den Energieverbrauch. Auch bei Maschinensteuerung und Achssystemen sieht er Raum zur Optimierung. Und melde darauf eigene Patente an. Mit Erfolg. 1841 verlässt seine erste Dampflokomotive die Fabrik, die Borsig I. Bei einer Wettfahrt von Berlin nach Jüterburg kann sie beweisen, dass der Nachbau dem ausländischen Original in nichts nachsteht. Die Eisenbahnbranche sorgt für ein regelrechtes Jobwunder in Deutschland. Hunderttausende sind allein im Streckenbau tätig. Tunneln und Brücken überwinden Berge und Täler. Sogar der unwegsame Schwarzwald wird erschlossen. Und der wirtschaftliche Erfolg rechtfertigt den Aufwand. Denn wo immer die Eisenbahn langführt, siedeln sich weitere Industriebetriebe an. Schon 1842 kann man von Dresden über Leipzig nach Berlin fahren. Und das Streckennetz wird immer weiter ausgebaut. 1870 sind es schon mehr als 19.000 Kilometer. 15 Jahre später sogar mehr als 37.000 Kilometer. Das entspricht bereits annähernd der heutigen Streckenlänge in Deutschland. Aber ein Problem war immer noch nicht gelöst. Das Durcheinander mit den Uhrzeiten. Kluge Fahrgäste hatten deshalb immer gleich mehrere unterschiedlich gestellte Uhren dabei. Eine für die Ortszeit, wo sie losgefahren waren, eine andere für die Uhrzeit am Ankunftsort. bis 1891 die einheitliche Eisenbahnzeit eingeführt wurde. Endlich Schluss mit dem Zeitenchaos. Die Eisenbahnzeit wurde zwei Jahre später deutschlandweit zum verbindlichen Standard, die sogenannte mitteleuropäische Zeitzone. Das brachte große Erleichterungen für den Verkehr und für die Wirtschaft insgesamt. Wie bei einer Kettenreaktion verhilft die Eisenbahn auch anderen Wirtschaftszweigen zum Durchbruch. Besonders dem Kohlebergbau an Ruhr und Saar. Mit der explodierenden Nachfrage schnellen auch die Fördermengen in die Höhe. Der Doppelbockförderturm der Zeche Zollverein in Essen wird auch als Eiffelturm des Ruhrgebiets bezeichnet. Ab 1851 wurde hier Steinkohle aus dem Boden geholt und in riesigen Anlagen zu Koks weiterverarbeitet. Dringend gebraucht für die Stahlerzeugung im Hochofen. Aber die industrielle Ausbeutung der Kohlereviere bleibt nicht ohne Folgen. Daran erinnert seit mehr als 100 Jahren das historische Pumpwerk an der alten Emscher in Duisburg. Die letzte Zeche im Ruhrgebiet wurde 2018 stillgelegt. Aber die Folgen werden wir vermutlich noch sehr lange zu spüren bekommen. Vielleicht bis in alle Ewigkeit. Denn die Abermillionen Tonnen Kohle und Gestein, die aus dem Boden genommen wurden, haben das Ruhrgebiet absacken lassen. Im Durchschnitt um 12 Meter. Das ist teilweise unterhalb des Grundwasserspiegels. Um die Menschen im Ruhrgebiet vor Überschwemmungen zu schützen, arbeiten heute mehr als 200 solcher Pumpwerke. Die alten Dieselaggregate wurden mittlerweile durch neuere Modelle ersetzt. Ansonsten ist hier eigentlich alles beim Alten geblieben. Auch die heute denkmalgeschützte Kuppel aus Eisenbeton. Und auch heute noch laufen die Pumpen hier Tag und Nacht rund um die Uhr. Und das ist auch gut so, denn ansonsten würde den Menschen im Duisburger Norden ziemlich schnell das Wasser bis ins Wohnzimmer stehen. Rund 100 Millionen Euro kostet der Betrieb des gigantischen Pumpensystems jedes Jahr. Man spricht da auch von Ewigkeitskosten. Das ist richtig viel Geld, aber solange Menschen im Ruhrgebiet leben, müssen die Pumpen laufen. Neben Kohle ist Eisenerz der zweite wichtige Rohstoff des Industriezeitalters. Daraus wird in einem komplexen Verhüttungsprozess Eisen und Stahl hergestellt. Größter Abnehmer dafür die Eisenbahn. Mit dem Hochofen-und Puddelwerk der Gebrüder Stumm entsteht im saarländischen Neunkirchen eines der modernsten Eisenhüttenwerke Deutschlands. Für die Arbeiter an den Hochöfen ein Knochenjob. Die flüssige Masse aus Eisenerz und Koks muss ständig gepuddelt werden. Das heißt umgerührt, um so das Roheisen in Schmiedeeisen umzuwandeln. Mit 22 Jahren übernimmt Karl Ferdinand Stumm die Leitung des Neunkircher Eisenwerks. Der Spross einer Unternehmerdynastie ist überzeugt, dass er seinen Betrieb wie eine Familie führen muss. Mit ihm als strengem Vater an der Spitze. Und den Arbeitern als seinen Kindern, die zur Zucht und Ordnung anzuhalten sind. Josef? Jawohl, Herr Direktor. Warst du heute in der Kirche? Ja, Herr Direktor. Und der Alkohol? Nur an Feiertagen, Herr Direktor. Und keine heimlichen Frauengeschichten? Nein, Herr Direktor. Du weißt, dass nur geheiratet wird, wenn ich zustimme? Natürlich, Herr Direktor. Sehr gut. So ein Verhalten kommt uns ja heute eher übergriffig vor, vielleicht sogar rechtswidrig. Wie haben das denn die Leute damals empfunden? Ja, das war in dieser Zeit leider völlig normal. Also stumm war Herr im Haus, sein Wort galt. Aber in der Marrechte gab es so gut wie keine. Die mussten sich... die Arbeiter erst mühsam erkämpfen. Wobei Stumm war in der damaligen Zeit eigentlich ein relativ sozialer Unternehmer. Also er bezahlte relativ hohe Löhne, er hat Hilfskassen gegründet, er hat ein Krankenhaus für seine Arbeiter gegründet. Aber dafür verlangt er eben unbedingten Gehorsam. Wer aus der Reihe tanzte, der musste gehen. Stumms Einfluss reicht über die Grenzen seiner Eisenhütte weit hinaus. Der Scheich von Sarabien, wie er genannt wird, macht auch große Politik. Als Mitbegründer der Freikonservativen kämpft er im Berliner Reichstag erbittert gegen eine immer stärker werdende Sozialdemokratie. Mitte des 19. Jahrhunderts werden Verfahren entwickelt, die den Kohlenstoffgehalt des Eisens bei der Verhüttung verringern. Dadurch entsteht Stahl. Er wird zum Inbegriff des industriellen Fortschritts. Stahl kann geschmiedet, gepresst, geformt und gewalzt werden. Ein fast magischer Werkstoff, mit dem nichts unmöglich scheint. Herr über eine Gussstahlfabrik in Essen ist Alfred Krupp. Sein ganzes Leben hat er dem Stahl gewidmet. Für den ersten großen Expansionsschub sorgt auch bei ihm die Eisenbahn. Krupp entwickelt nahtlos geschmiedete und gewalzte Stahlreifen, die auf die Räder der Lokomotiven gezogen werden. Sein bruchsicherer Eisenbahnradreifen wird weltweit zum Verkaufsschlager. Und in Form dreier aufeinanderliegender Ringe sogar zum Krupp'schen Firmenemblem. Der nächste Expansionsschub kommt von der preußischen Monarchie. 72 Kanonenrohrblöcke aus Gußstahl vom Krupp? Ja, euer Exzellenz. Warum so geizig? Dieser Krupp ist ein guter Mann. 300 Stück? Die werden schon nicht verderben. Abmarsch! Die Rüstungssparte wird nach der Eisenbahntechnik zum zweiten Standbein des Unternehmens. Und der preußische Staat zu einem Großkunden. Waffen aus Krupp-Stahl. Wir leben jetzt in der Stahlzeit, schreibt Krupp an König Wilhelm I. Und es sind seine Kanonen, mit denen die Preußen von Sieg zu Sieg eilen. Das historische Archiv Krupp ist das älteste deutsche Wirtschaftsarchiv und eines der besten weltweit. Hier lagern Unmengen Akten, Geschäftsunterlagen, Pläne, zweieinhalb Millionen Fotografien und auch Filme. Alles, was seit der Gründung des Unternehmens 1811 angefallen ist, wird hier gesammelt. Und weil Krupp beständig wächst, greift man auch bei Aufnahmen der Werksanlagen zur XXL-Lösung. Wow, das ist riesig. Das ist wie so ein Panoramabild, das man mit seinem Smartphone gemacht hat. Ja, das ist sozusagen das Instagram des 19. Jahrhunderts. Fotografie ist damals ein Hightech-Medium. Die Größen dieser Panoramen sind sogar bis 8 Meter breit. Sie wurden produziert in den... 1860er Jahren von einer eigenen Werksfotografie. Krupp ist sozusagen der Grundsteinleger für eine moderne Industriefotografie. Und eine solche Form der Kommunikation ist ein großer Erfolgsfaktor für die Firma Krupp. Aus der Sechs-Mann-Werkstatt des Vaters macht Alfred Krupp einen Weltkonzern mit 20.000 Beschäftigten. Allein zwischen 1861 und 1873 vergrößert sich die Werksfläche im Essener Westen um das Jahr 1871. Das 20-fache. Für seine Arbeiter, die Kropianer, entstehen zu dieser Zeit die ersten werkseigenen Siedlungen. Wie die Vorzeigegartenstadt Margaretenhöhe. So sieht modernes Wohnen im Jahr 1911 aus. Hell, großzügig, mit separater Küche und Kachelofenheizung. Sehr hübsch, aber für die meisten Arbeiter unerschwinglich. Viele kinderreiche Familien leben in Mietskasernen. Mehretagige Häuser um einen engen Innenhof herum gebaut. Durch die Höhe kommt unten nur wenig Licht und Luft an. Und die Wohnung selbst besteht oft nur aus einem einzigen Zimmer. Darin wird gewohnt, gegessen und geschlafen. Nicht einmal ein eigenes Klo gibt es. Ein Leben am unteren Rand der Gesellschaft und ohne Aussicht auf Besserung. In den beengten Quartieren wächst die Unzufriedenheit, aber auch das neue Selbstbewusstsein einer Gesellschaftsschicht, die als Arbeiterklasse Geschichte schreiben wird. Auch am oberen Rand der Gesellschaft entsteht eine neue Klasse, das Wirtschaftsbürgertum. Mitte des 19. Jahrhunderts sind es bereits einige hundert Familien. Klotzen, nicht kleckern ist hier die Devise. Die neureichen Unternehmer bauen sich Villen und ganze Schlösser, wie man sie nur von den Landsitzen des Adels kannte. Freistehend, in herausgehobener Lage, umgeben von einem weitläufigen Park. Luxuriös auch im Inneren. Gerne mit Billardzimmer und eigenem Personal. Doch alle industriellen Paläste verblassen neben dieser Gigantomanie. Alfred Krupps Villa Hügel in Essen. Selbst der Kaiser soll beeindruckt gewesen sein. Wie kein zweiter Bau symbolisiert das schlossartige Gebäude Macht-und Prachtentfaltung des neuen Unternehmertums. Auch international sind deutsche Unternehmen jetzt erfolgreich. Wilhelm Siemens leitet eines dieser Start-ups mit Sitz in London. Der hochverehrte General Baker wird nun die indoeuropäische Telegrafenlinie einweihen. William Baker? An Kolonel Robinson, Kalkutta. Countdown zu einer Jahrhundertsensation. Die erste telegrafische Übermittlung einer Nachricht von London nach Kalkutta. Nach jahrelanger Vorbereitung geht die unter Siemens Leitung gebaute Telegrafenlinie in Betrieb. Die indoeuropäische Telegrafenlinie wurde ab 1868 in nur zwei Jahren errichtet. Fast 70.000 Masten mussten dafür aufgestellt und aber 1.000 Kilometer Leitungsdraht an Porzellanisolatoren befestigt werden. Oft führt die Strecke dabei durch unwegsames Gelände. Am Ende sind es 11.000 Kilometer, mehr als ein Viertel des Erdumfangs, die so mittels neuester Technik verbunden sind. Nach gerade einmal einer Stunde die Rückantwort aus Kalkutta. Meine Herren, Sie alle sind Zeugen eines historischen Augenblicks. Die neue Telegrafenlinie wird hoch profitabel für Siemens und bis 1931 in Betrieb bleiben. Ein Triumph, auch für die aufstrebende Industrienation Deutschland. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erfasst das Land ein nie dagewesener Fortschrittsoptimismus. Und der Staatssäckel ist voll. Fünf Milliarden Franc in Gold kann das Deutsche Reich ausgeben, die das zuvor besiegte Frankreich zahlen muss. Der deutsche Gründerboom hat begonnen. Die damals errichteten Häuser mit prächtigen Fassaden prägen heute noch viele Stadtbilder. Die allgemeine Aufbruchsstimmung bekommt auch die Börse zu spüren. Immer mehr Unternehmen geben jetzt Aktien aus. Und fast jeder will investieren. Aktiengesellschaften gab es ja schon seit längerer Zeit in Deutschland, aber warum denn jetzt dieser Boom? Mit der Reichsgründung fiel die Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften weg. Und das heißt, niemand schaute mehr nach der Bonität von Aktiengesellschaften. Jeder, der wollte, konnte im Namen der sogenannten freien Konkurrenz eine Aktiengesellschaft praktisch aus dem Nichts gründen. Die Kapitalausstattung war nebensächlich. Da kann man schon sagen, ein entfesselter Markt, oder? Ganz genau. Und das geht ja bekanntlich. selten gut. Eine entscheidende Rolle spielen dabei sogenannte Maklerbanken. Heute würde man sie Investmentbanken nennen. Ihr Geschäftsmodell? Frisch gegründete Unternehmen oder alteingesessene Familienbetriebe an die Börse zu bringen. Mit dem eingesammelten Kapital wird dann direkt die nächste Aktiengesellschaft aus der Taufe gehoben. Gewinn bringen, versteht sich. Zwei Jahre lang herrscht Goldgräberstimmung in Deutschland. Geschichten von märchenhaften Aktiengewinnen machen die Runde und mit den Kursen steigt auch das Spekulationsfieber immer weiter an. Die Gründerzeit endete ja 1873 mit einem internationalen Börsencrash. Und dieser Crash hatte fatale Folgen. Unternehmen, Banken wurden in den Abgrund gerissen, Milliarden von Mark gingen verloren. Der sogenannte Gründerkrach oder auch die Gründerkrise. War das letztendlich die Quittung für die Entfesselung des Marktes? Das System funktionierte natürlich nur so lange, wie Spekulanten an immerwährende Kursgewinne glaubten. Es waren vor allem zwei Sektoren, die äußerst beliebt waren für Anleger. Einerseits die Baubranche. Beispielsweise in der Stadt Berlin, da wurden anfinanziert und teilweise angefangen zu bauen Bauprojekte, die für viel, viel mehr Millionen Menschen gereicht hätten, als eigentlich in der Stadt wohnten. Und der zweite Sektor, das sind die Eisenbahnkonsortien, die noch Schienenstränge planten bis in den hintersten Winkel Europas. Also das war eine Blase, die irgendwann platzen musste. Und sie ist ja dann auch geplatzt. Doch die deutsche Wirtschaft... Und nicht nur das. Bis zum Ersten Weltkrieg steuert sie auf eine zweite, fulminante Phase der Industrialisierung zu. Auch in der Fortbewegung gab es damals einen tiefgreifenden Wandel. Das Automobil eroberte die Straßen. Aus damaliger Sicht ein Riesenfortschritt, denn das Auto galt als sauber. Heute kaum zu glauben, aber die Großstädte ertranken damals buchstäblich in Pferdemist. Noch um die Jahrhundertwende wird nahezu jeder Transport mit Pferdefuhrwerken durchgeführt. Allein in New York gibt es damals rund 100.000 Pferde. Das macht 100.000 mal 10 Kilo Pferdeäpfel am Tag. Eine echte Herausforderung für Umwelt und Gesundheit. Die Times in London sagte damals voraus, dass die Straßen in 50 Jahren mit einer zwei Meter hohen Schicht Pferdemist bedeckt sein würden. Das ging als große Pferdemistkrise von 1894 in die Geschichte ein. Auch in Deutschland war die Situation angespannt. Die Lösung brachte dann tatsächlich das Automobil. Der Start ist heute legendär. 1888 unternimmt Bertha Benz mit ihren Söhnen eine Überlandfahrt von Mannheim nach Pforzheim. 104 Kilometer, auf der sie das weltweit erste alltagstaugliche Automobil präsentierte. Danach ist klar, dem Benz Patentmotorwagen Nummer 1 gehört die Zukunft. Auch wenn sich die Menschen an das holprige Gefährt auf seinen drei Rädern erst einmal gewöhnen mussten. Wir sind hier im Automuseum Dr. Karl Benz in Ladenburg. Herr Seidel, Karl Benz, der große Name, er hat hier auch gewirkt. Aber ohne ihm was von seinen Verdiensten nehmen zu wollen, man muss sagen, so ganz allein hat er das Auto ja nicht erfunden, oder? Das stimmt eigentlich. Das ist schon wahr, weil es... Es war eigentlich die Genialität dieser damaligen Automobilpioniere, all das, was schon erfunden war, was es schon gab, so aneinander zu fügen, dass es funktionell wurde. Wir können uns das ja mal anschauen. Der Motor, der war da, den hatte Nikolaus Otto ja bereits entwickelt. Es gab Antriebsübersetzungsmethoden, es gab Zündungsmethoden. Es wurde immer, immer weiterentwickelt. durch Ingenieure, die sich ständig was Neues einfallen ließen. Welches dieser Autos war denn das erste, das in Serie hergestellt wurde? Ja, das ist im Grunde genommen das berühmte Benz Velo. Immerhin 1200 Mal hergestellt. Damals im Kutschenzeitalter. Sie dürfen gerne mal einsteigen. Ja klar, das mache ich. Das wackelt ein bisschen. Man hatte natürlich die Federung von den Kutschen übernommen. Die Wege waren ja damals noch sehr schlecht. Und man musste das schon gescheit abfedern. Aber man hatte ein Verkehrsmittel, mit dem man immerhin eine Geschwindigkeit von 25 bis 30 Kilometern in der Stunde fahren konnte. Es hatte bescheidene 2,75 PS, aber es war eigentlich der erste Volkswagen der Ausbildung. Bereits um die Jahrhundertwende entwickelt Ferdinand Porsche den ersten serienmäßigen Hybridantrieb. Der Lona Porsche beeindruckt mit einem Elektromotor in der Vorderachse. Auch die automobile Schallmauer von 100 Stundenkilometern durchbricht 1899 zuerst. Ein Elektrofahrzeug. Einziger Nachteil? Die zu schwachen Batterien. Und deshalb macht dann doch der Verbrennungsmotor das Rennen. Die Fahrt beginnt in fünf Minuten. Auch bei den elektrischen Schienenfahrzeugen tut sich was. Auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 präsentiert die Firma Siemens die erste elektrische Schienenfahrt. Lokomotive. Personenbeförderung mit Strom, basierend auf dem dynamo-elektrischen Prinzip. Die kleine Lok ist im Grunde ein Elektromotor auf Rädern. Der Strom wird über die Schienen zugeführt. Auch wenn es vielleicht nicht so ausschaut, es ist der Beginn einer technologischen Revolution. Im Berliner Villen vor Ort Lichterfelde startet zwei Jahre später die weltweit erste dauerhaft betriebene elektrische Straßenbahn. Ein Meilenstein. Ob als Tram, U-Bahn oder Hochgeschwindigkeitszug, elektrische Schienenfahrzeuge, sind bis heute das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs. Deutsche Universitäten und Forschungsinstitute zählen damals zur Weltspitze. Zwischen 1901 und 1914 geht von den 42 naturwissenschaftlichen Nobelpreisen jeder dritte. an einen deutschen Forscher. Darunter so bekannte Namen wie Wilhelm Conrad Röntgen für die Entdeckung der nach ihm benannten Röntgenstrahlen. Robert Koch, Medizin-Nobelpreis für seine Arbeiten über die Tuberkulose. Paul Ehrich, Medizin-Nobelpreis für seine Beiträge zur Immunologie. Und nicht zuletzt Ferdinand Braun. Er erhält den Nobelpreis für Physik für seine Verdienste um die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie. Dank der engen Zusammenarbeit von Wissenschaft und Forschung mit der Industrie entstehen damals viele neue Technologien. viele erfolgreiche Produkte. 1892 bringt der Dresdner Unternehmer Karl August Lingner das Mundwasser Odol auf den Markt. 1895 lässt der Unternehmer Johann Karl Weck die Technik des Einweckens mit dem passenden Weckglas patentieren. Im selben Jahr entwickelt der Elektrotechniker Wilhelm Emil Fein die erste elektrische Handbohrmaschine. Der gelernte Dreher Louis Leitz erfindet 1896 den nach ihm benannten Leitz-Orden. Die Thermosflasche wird 1903 vom Glastechniker Reinhold Burger geschaffen und der Einweg-Kaffeefilter 1908 von der Hausfrau Melitta Benz. Allen Innovationen gemeinsam ist, sie erleichtern den Alltag. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wobei man nicht vergessen darf, viele bahnbrechende Erfindungen lagen sozusagen in der Luft und wurden in mehreren Ländern gleichzeitig gemacht. 54 Millionen Menschen leben um 1900 in Deutschland. Um 1800 waren es gerade mal 22 Millionen. Und immer mehr Deutsche arbeiten in der Fabrik. In Sachsen, wo die Textilindustrie eine vergleichbare Bedeutung hat wie Stahl und Kohle im Ruhrgebiet, arbeitet jeder Zehnte in einer Textilfabrik. In Krimitschau, der Stadt der 100 Schornsteine, ist es sogar jeder Dritte. Unter welchen Bedingungen vor allem Frauen damals arbeiten müssen, beschreibt die junge Schriftstellerin Minna Wettstein-Adelt in ihrem Erfahrungsbericht dreieinhalb Monate Fabrikarbeiterin. Haare zusammenbinden. Für Informationen aus erster Hand arbeitet sie 1892 undercover in mehreren Chemnitzer Textilfabriken. In den meisten Fabriken fängt die Arbeit um halb sieben an. Die Mädchen arbeiten sehr schwer. So manche erzählte mir, wie sie in den ersten vier Wochen zusammengebrochen ist vor Anstrengung. Wie die meisten monatelang an Lungen-und Halskrankheiten verbleiben. leiden, bis sie den Staub gewöhnt sind. Schlaf nicht ein! Weiter! Bis Mittag muss das fertig sein. Gearbeitet wird elf Stunden täglich, von Montag bis Samstag. Eine 66-Stunden-Woche. Für das Waschen und Kämmen der Rohwolle werden oft ungelernte junge Frauen eingesetzt. Mitunter sind es noch halbe Kinder von 14 Jahren. Ich fand das Leben jener Mädchen so entsetzlich traurig. So monoton. Jahr aus, Jahr ein, dasselbe Einerlei. Dieselbe Arbeit bei schlechtem Lohn. Die schwierige Situation der Arbeiter treibt damals viele Menschen um. 1863 gründet der Journalist Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Die erste Partei der Deutschen Arbeiterbewegung. 1875 folgt der Zusammenschluss mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geprägten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Doch Reichskanzler Otto von Bismarck bekämpft die aufstrebende Sozialdemokratie mit Ausnahmegesetzen und polizeistaatlichem Terror. Gleichzeitig umwirbt er die arbeitende Klasse mit der Einführung moderner Sozialgesetze. Bismarcks Modell des deutschen Sozialstaats sorgt weltweit für Furore, kann den Aufstieg der Sozialdemokratie zur prägenden politischen Kraft im Reich aber nicht verhindern. Auch in den Betrieben zeigt sich jetzt ein gewachsenes Selbstbewusstsein. Im Juli 1903 beschließt die Textilarbeitergewerkschaft in Krimitschau, ein halbes Dutzend Fabriken zu bestreiten. Bald stehen alle Maschinen still. Für die Einführung des 10-Stunden-Tages und eine 10-prozentige Erhöhung der Akkordlöhne. Während die Fabrikanten alles daran setzen, Streikbrecher anzuwerben, kommt es im ganzen Land zu Solidaritätsaktionen. Rund 8000 Textilarbeiter haben die Arbeit niedergelegt. Männer und Frauen. Zum ersten Mal in Deutschland stellen Arbeiterinnen die Hälfte der an einem Arbeitskampf Beteiligten. Ihr Aufstand wird zum Symbol der Arbeiterbewegung, zur Beschwörung einer solidarischen Arbeiterklasse. Auch wenn der Krimi-Chowar streikt, nach sechs Monaten zunächst ergebnislos abgebrochen wird. Was wie eine Niederlage aussieht, führt mittelfristig zum Erfolg. Im Jahr 1908 wird der Zehn-Stunden-Tag per Gesetz eingeführt. Ein später Sieg für die solidarischen Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Deutschland. Die radikalen Umbrüche der Industrialisierung blieben nicht ohne Folgen. Der Abschied von der Agrargesellschaft brachte enorme Probleme mit sich. Armut, Ausbeutung, katastrophale Wohnverhältnisse. Auf der anderen Seite sorgte die Entwicklung zum Industriestaat auch für Fortschritte. Zwar in der Hygiene, Medizin, Ernährung. Fortschritte, die den Alltag und die Lebensumstände der Menschen tatsächlich verbessert haben. Heute stehen wir erneut vor einem epochalen Umbruch der Arbeitswelt. Roboter, künstliche Intelligenz, all das wird kommen oder ist in vielen Industrien sogar schon da. An vielen Stellen ersetzen sie menschliche Arbeitskraft. Die historischen Erfahrungen zeigen, technischer Fortschritt hat immer seinen Preis, aber auch seine Chancen.