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Weimarer Klassik und ihre Ästhetik

Herzlich willkommen zur 11. thematischen Folge von Neue Deutsche Literaturgeschichte online, in der die sogenannte Weimarer Klassik als Stilalternative zur Jenenser Frühromantik erläutert wird. Was nun die ästhetischen Besonderheiten dieses Klassizismus ausmacht, das lässt sich gut an Johann Heinrich Tischbeins berühmtem Gemälde Goethe in der Campagna aufzeigen, das während Goethes Zeit in Rom 1787-88 entstanden ist. Zweierlei Seltsamkeiten fallen daran auf. Das linke Bein ist viel zu lang und der Oberkörper wird in einer Weise gerade gehalten, wie sie dem menschlichen Körperbau ersichtlich widerspricht. Anatomisch gesehen handelt es sich also um eine missglückte, weil unnatürliche Darstellung.

Diese Fehler rechtfertigen sich allerdings stilistisch, weil sich zum einen die Linie vom Hut links oben zur Fußspitze rechts unten als eine ausgewogene Diagonale erweist und zum anderen die frontal gezeigte Brust genau lotrecht angeordnet ist und mit den Schultern einen rechten Winkel bildet. Diese geometrisch und insofern rational motivierte Abweichung von der Natur findet ihre Erklärung nicht zuletzt in einer Erfahrung, die Goethe auf Sizilien gemacht hat. In der Villa Palagonia, in Bargeria nahe Palermo gelegen, ist alles bewusst widersinnig angelegt. Auch wenn vieles seit Goethes Zeit verloren gegangen ist, noch heute lassen die aus tierischen und menschlichen Formen willkürlich zusammengesetzten Grotesken auf der Ummauerung erahnen, wie sehr diese Fantasien im sizilianischen Barockstil einst den nordeuropäischen Geschmack provoziert haben müssen. In der italienischen Reise Das heißt, in der Beschreibung seines Besuchs in dieser Villa dei Mostri am 9. April 1787 lässt Goethe seiner Verärgerung freien Lauf und zeigt dabei deutlich, dass der ästhetische Ekel hier zugleich ethisch motiviert ist.

Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, dass die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der anderen Seite hinhängen. sodass das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird. Noch einmal zum Hintergrund. Was sich im späten 18. Jahrhundert als historisches Bewusstsein der Gegenwart herausgebildet hat, das ist nicht zuletzt die Einsicht, als Gegenwart von der Antike ganz grundsätzlich getrennt zu sein. Die Frühromantiker um die Brüder Schlegel und Novalis haben daraus die Konsequenz gezogen, bewusst modern sein zu wollen.

Das heißt, auf klassische Schönheit von vornherein zu verzichten, weil deren Ganzheitlichkeit in der hochzivilisierten Neuzeit ohnehin nicht mehr zu erreichen wäre. Der sogenannten Weimarer Klassik liegt demgegenüber der Anspruch zugrunde, wenigstens in schönen Kunstwerken das noch immer Realität sein zu lassen, was in der Lebenswelt bestenfalls noch Erinnerung ist. Diesen Anspruch haben Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe zwischen 1794 und 1805, Schillers Todesjahr, weniger durch eigene literarische Produktionen als durch Programmschriften und Preisausschreiben für bildende Künstler als Norm durchzusetzen versucht. Genau genommen handelt es sich bei der Weimarer Klassik also um ein elitäres Projekt.

dass Schiller, Goethe und wenige andere Mitstreiter wie Wilhelm von Humboldt in der Art einer ästhetischen Kontrarevolution gegen den populären, auf Naturähnlichkeit insistierenden Geschmack des Publikums betrieben haben. Demgemäß betont Schiller 1803 im Vorwort zum Trauerspiel Die Braut von Messina, dass es ihm vor allem darauf ankomme, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären. Und er lässt zu diesem Zweck in der Brautvoll Messina, ganz wie in den Tragödien der griechischen Antike, wieder Chöre auftreten.

Ein rhythmisch-musikalisch strukturiertes Sprechen im Kollektiv also, das in aller Deutlichkeit unnatürlich ist, weil man im Alltag nun einmal nicht so redet. Schiller ist sich dabei sehr wohlbewusst, dass diese gewollte Unnatürlichkeit bzw. die konsequente Stilisierung dem Mehrheitsgeschmack im Publikum gründlich zuwiderläuft.

Die Weimarer Theater-Experimente Goethes und Schillers sind daher polemisch angelegt und sie nehmen in Kauf, die Erwartungen der Theatergänger zu briskieren. Umso mehr soll zugleich deutlich werden, dass nur ein wahrer Genie in der Lage ist, solch hohe Kunstwerke zu schaffen. Alle anderen bleiben demgegenüber bloß Dilettanten. Im Gegensatz zur Frühromantik, die mit Nachdruck auf Allgemeinverständlichkeit setzt und die Kluft zwischen Künstler und Konsumenten gerade überspielen will, behandeln die Weimarer Klassiker ihr Publikum insofern eher wie Schüler, deren Geschmack durch ausgewiesene Autoritäten erst noch richtig geschult werden muss.

Die entsprechenden Grundprinzipien lassen sich, wie bei jeder Klassik, vor allem auf den römischen Dichter Horats zurückführen, dessen Ars Poetica, eine Dichtungslehre in Versen, die leitenden Maßstäbe formuliert. Allem vorausgesetzt ist dabei die Vernünftigkeit des Schreibens, das daher nach einem gebildeten Autor verlangt, der sich seiner Regeln bewusst ist. Weil diese Regeln als überzeitlich gültig verstanden werden, gelten die Werke der antiken Griechen als die entscheidenden Muster, da man den Gipfelpunkt künstlerischer Schönheit im griechischen Altertum lokalisiert. Dessen Standard daher das dauerhafte Richtmaß aller ästhetischen Leistung bedeutet. Als wichtigste Eigenschaft dieser antiken Werke gilt vor diesem Hintergrund die Ganzheitlichkeit.

Das heißt, Die formale wie materiale Geschlossenheit, wie sie insbesondere an Statuen zu beobachten ist. Aus diesem Grund kommt es darauf an, in allen Gestaltungen das Maß zu wahren und beispielsweise auf der Bühne nichts gar zu Schockierendes zu zeigen. Das muss im Theater notfalls hinter der Szene geschehen und bloß durch Bodenbericht oder Mauerschau in abgeschwächter, gedämpfter Weise dargestellt werden. Konkret für das Theater bedeutet das eine Rückkehr zu den Traditionen des Klassizismus, speziell zu den im stummen Drang zuvor so entschieden verweigerten aristotelischen Einheiten, die in der Poetik des Aristoteles zwar bestenfalls indirekt erwähnt sind, explizit aber in der italienisch-französischen Theatertheorie des 16. und 17. Jahrhunderts als Gesetz formuliert wurden und seitdem normativen Charakter besitzen.

Als wichtigster Vorbereiter des Weimarer Neuklassizismus ist Johann Joachim Winkelmann anzusehen, der 1755 in seinen schnell europaweit rezipierten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst erneut betont hat, dass jeder gute Geschmack auf die Kunst der Griechen zurückführt und deren Leistungen daher als nach wie vor dominantes Vorbild belegt. Aber auch schon bei Winkelmann wird mitgedacht, dass die Neuzeit durch eine tiefe Kluft vom Altertum getrennt ist. Nur aus diesem Grund macht es ja überhaupt Sinn, sich auf die Antike zurückzubesinnen, um in der Neuzeit wiederum zu ähnlichen Großleistungen gelangen zu wollen.

Nicht als Imitation bzw. Wiederholung, sondern als Überbietung, indem man die griechischen Muster als formalen Standard aufgreift und sie unter den Bedingungen der Neuzeit auf moderne Weise modifiziert. Worin griechische Schönheit besteht und inwiefern sie für die Gegenwart richtungsweisend sein soll, das fasst Winkelmann in die Formel edle Einfalt und stille Größe und propagiert das als Leitkonzept eines neuen Klassizismus.

In kunstphilosophisch weit anspruchsvollerer Weise sieht Karl Philipp Moritz 1788 daraus seine Konsequenz, als er als Summe von Gesprächen mit Goethe und dessen Künstlerfreunden in Rom seine Gedanken über die bildende Nachahmung des Schönen formuliert und damit die theoretischen Grundlagen der Weimarer Klassik entwickelt, die aus gutem Grund auch als Autonomieästhetik bezeichnet wird. Ausgangspunkt ist die Idee, Dass alle Kunst sich darin ganz und gar von den sonstigen Bereichen menschlicher Lebenspraxis unterscheidet, dass sie, indem sie auf Schönheit zielt, von jeder Verpflichtung auf Zwecke bzw. Nützlichkeit befreit ist und insofern ganz eigengesetzlich arbeitet, autonom eben.

Schönheit wird demzufolge als das definiert, was nicht nützlich zu sein braucht, ohne deshalb schon unsinnig oder wertlos zu werden. Ein schönes Kunstwerk rechtfertigt sich vielmehr dadurch in seiner Besonderheit, dass es im Unterschied zu bloßem Tant zwar unnütz ist, aber doch eine Ganzheitlichkeit demonstriert, die es als an sich sinnvoll gebildet erkennen lässt. Als ein Ganzes also.

das sich aus harmonisch zusammenspielenden Teilen ergibt, genauer gesagt, ein Werk, dessen Schönheit darin besteht, dass wir es als organische Einheit sehen, hören oder sonst wie wahrnehmen können. Im schönen Kunstwerk übertrifft sich die Natur also gewissermaßen selbst, indem durch Menschen etwas möglich wird, was die Natur für sich allein nicht hervorzubringen vermöchte. Jedes Kunstwerk ist in diesem Sinn ein Abbild der gesamten Schöpfung, die ja per se etwas schlechthin Ganzes ist und allein aus dem Grund schon die umfassendste Schönheit überhaupt, weil die Natur an sich ja ebenfalls zu nichts Nütze ist, das heißt keinem Zweck außer sich selbst zu dienen hat.

Jeder echte Künstler, dem solche Schönheit gelingt, ist folgerichtig eine Art Gott im Kleinen. Und das heißt zugleich, dass es eine strikte Trennlinie geben muss zwischen den wenigen Genies, die in struktureller Analogie zur Schöpfung Gottes wahre Ganzheitlichkeit erschaffen und den vielen, die an solchen Werken der Kunst zwar ihre Freude haben, nicht aber selbst zu ihrer Hervorbringung fähig sind. Diese Begründung einer Autonomieästhetik bei Karl Philipp Moritz hebt Immanuel Kant zwei Jahre später auf das Niveau der Transzendentalphilosophie.

Begrifflich weit präziser als Moritz definiert er in seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Wohlgefallen als interesselos. Mit der Freude an Schönheit ist ja kein Wunsch verbunden, diesen schönen Gegenstand auch zu besitzen, kein Habenwollen also. Ganz im Unterschied zu anderen Objekten des Wohlgefallens wie etwa Reichtum oder Macht. Die Kunst als solche bildet insofern einen Bereich, der grundsätzlich anders funktioniert, als das stets von Konkurrenzdenken und Rivalität bestimmte Alltagsleben.

In Übereinstimmung mit Karl Philipp Moritz, dessen Name in der Kritik der Urteilskraft feilig nirgendwo erscheint, definiert Kant das Schöne auch als Zweckmäßigkeit ohne Zweck und geht darin in gewisser Weise doch über Moritz hinaus. dass er die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit definiert. Sittlichkeit setzt Uneigennützigkeit voraus und bildet dadurch einen Wert an sich, der nicht auf Zweckdenken hinausläuft.

Weil nun aber ein Werk der schönen Kunst in der Ganzheitlichkeit seiner Gestaltung ebenso organisiert ist wie eine wahrhaft sittliche Handlung, kann das Kunstwerk diese Logik der Sittlichkeit mithin augenfällig machen. Schönheit und Moralität, Ästhetik und Ethik sind sich insofern strukturgleich und bilden zwei Seiten ein und desselben Ideals. Goethe selbst hat in Beiträgen zur kurzlebigen Kunstzeitschrift Propyläen die Besonderheit künstlerischer Gestaltung als Übersteigerung des Normalen erklärt, die aber nicht bis ins Wiedernatürliche führen dürfe. Schönheit entstehe vielmehr aus der Umformung des Natürlichen nach vernünftigen Prinzipien, aus einer Stilisierung im Interesse größerer Ordnung.

Jedes Kunstwerk muss sich daher von der Natur unterscheiden, darf mit dem Wirklichen also nicht verwechselt werden. Es muss seine Artificialität deutlich erkennen lassen und insofern eine eigene Welt neben der alltäglichen ausbilden, in dem die innere Geschlossenheit der jeweiligen Gestaltung im Vordergrund steht. Die klassizistischen Stilisierungsprinzipien, etwa die Verpflichtung auf Symmetrie, sind vielleicht am glücklichsten im Schauspiel Iphigenie auf Taurus zur Geltung gebracht, strikter noch als im Torquato Tasso, der statt auf einem antiken Mythos auf der tatsächlichen, tragischen Lebensgeschichte des italienischen Epikers basiert.

Beide Schauspiele, auf dem Indifferenzpunkt also von Tragödie und Komödie, sind tout à fait selon les règles konzipiert, wie Goethe in einer viel späteren Notiz kommentiert. Streng befolgen sie die formalen Regeln, die in der französischen Theaterklassik des 17. Jahrhunderts ausgebildet wurden und nun eine Aktualisierung erfahren. Was Iphigenie auf Taurus angeht, Sark Goethe bereits 1779 eine erste Version verfasst und in Weimar auch zur Aufführung gebracht, mit ihm selbst übrigens in der Rolle des Orest.

Die eigentlich klassische bzw. klassizistische Version ist dann in den ersten Monaten der Italienreise entstanden und schon 1787 veröffentlicht worden. Die rhythmische Prosa der Erstfassung ist nun in Blankverse umgewandelt wie sie später auch Schiller bei seinen klassizistischen Theaterstücken aufgreifen sollte.

Allein an dieser Verwendung des von Shakespeare her bekannten Blankpherses zeigt sich schon, was die Weimarer Klassik im Spannungsfeld von Antike und Moderne auszeichnet. Der Rückgriff auf gebundene Sprache, wie sie für die attische Tragödie selbstverständlich gewesen war. Das geschieht freilich nicht in der originalen Form etwa des jambischen Trimeters, sondern in dessen neuzeitlicher Variation als fünfhebiger Jambus. Genuin antik ist am Blankvers eigentlich nur der Verzicht auf den Reim, von dem die antike Dichtung ja noch nichts gewusst hat. Anders als Schiller, der anstelle klassischer Mythen lieber neuzeitliche Historien Wie etwa das Schicksal der schottischen Königin Maria Stuart inszeniert, greift Goethe in Ephigenie auf Taurus einen Hauptstoff der antiken Tragödie auf und modifiziert ihn nach modernen Vorstellungen.

Wie sich sein Schauspiel zu den ausgesprochen blutigen Tragödien der Antike verhält, mag der Vergleich des wuchtigen Parthenon, des Haupttempels auf dem Burgberg von Athen, Mit der ganz in Renaissance-Eleganz gehaltenen Villa Rotonda nahe des norditalienischen Vicenza illustrieren. Goethe hat sie genau in der Zeit eingehend besichtigt, in der er auch seine Iphigenie klassizistisch umschrieb. Oder von anderer Seite her gesagt, Goethes Schauspiel hat nur wenig mit Euripides, dem antiken Schöpfer des Mythos um Iphigenia, zu tun.

Weit näher steht es den Tragödien des französischen Klassikers Jean Racine. Eigentliches Stilvorbild für Goethes'Iphigenie ist jedenfalls in erster Linie das Theater der französischen Klassik und nicht das der antiken Griechen. Diesen französischen Einfluss zeigt allein schon der Name der Titelfigur an. Iphigenie folgt der französischen Adaption des griechischen Iphigenia. Und auch die historische Sorglosigkeit im Umgang mit den Götternamen entspricht der Praxis in Frankreich.

Dagegen verdrängt bei Goethe der aus England stammende Blankvers den gereimten Alexandrina der Franzosen, die wiederum die aristotelischen Einheiten ähnlich streng beachtet haben wie nun auch Goethe. Dass die originalen Mythen aus griechischer Vorzeit bei ihren neuzeitlichen Adaptionen immer schon modifiziert worden sind, versteht sich von selbst. Goethe geht dabei allerdings erheblich weiter als seine Vorläufer im 17. und 18. Jahrhundert, indem er die Geschichte Iphigenies bei den Taurern auf ganz andere Weise enden lässt als Euripides, der sie in zwei Stücken ausgestaltet hat. Iphigenia in Aulis und Iphigenäa bei den Taurern.

Iphigenäa entstammt dem Königsgeschlecht der Tantalien, das seit dem Urfrevel ihres Stammvaters Tantalus in jeder Generation durch Bluttaten Schuld auf sich geladen hat. In Iphigenäa in Aulis will ihr Vater Agamemnon sie opfern, um die Götter für den Kriegszug gegen Troja günstig zu stimmen. Die Göttin Artemis greift jedoch ein und versetzt Iphigenäa nach Taurus, wo sie als Artemis-Priesterin Dienst tun wird.

Eine weitere Voraussetzung für Iphigenäa bei den Taurern besteht darin, dass Agamemnon nach dem Sieg über Troja zu Hause von seiner Gattin Clytemnestra und seinem Bruder Menelaus ermordet worden ist. Agamemnons Sohn Orest, der Bruder Iphigenäas, hat er die tragische Pflicht gehabt, den Vatermord zu rächen und zu diesem Zweck die eigene Mutter töten müssen. Iphigenäa bei den Taurern zeigt nun, wie die Griechen wider Willen beim barbaren Volk der Taurer als Artemis-Priesterin lebt.

Auf seine Irrfahrt gelangt schließlich auch Orest nach Taurus, weil ein Orakel ihn beauftragt hat, den Taurern das dortige Standbild der Artemis zu rauben und nach Athen zu bringen. Orest wird mitsamt seinen Gefährten freilich gefangen genommen und soll nun von Iphigenäa geopfert werden. Die Geschwister erkennen sich jedoch rechtzeitig und wollen gemeinsam fliehen.

Zunächst versuchen die Taurer zwar, diese Flucht zu verhindern, doch dann greift die Göttin Athene ein und sorgt für den sicheren Abzug der Griechen. Das heißt, die Taurer werden düppiert. Es ist vor allem diese einseitige Lösung bei Euripides, die Goethe nicht übernimmt, weil für ihn der Unterschied von Griechen und Taurern keinen Wertgegensatz mehr bedeutet. Wie es die klassizistische Schlichtheit verlangt, begnügt sich Goethes Version mit fünf Personen, die symmetrisch angeordnet sind. König Thoas und sein Ratgeber Arkas, die beiden männlichen Taurer, stehen zwei männlichen Griechen gegenüber, Orest und seinem Freund Pylades, dazwischen als einzige weibliche Figur Iphigenie.

Die aristotelischen Einheiten von Zeit, Ort und Handlung sind unangestrengt gewahrt. Die Handlung vollzieht sich in rascher Folge im Hain vor Dianens Tempel und dreht sich allein um die Frage, ob bzw. wie Iphigenie in ihre griechische Heimat zurückkehren kann.

Goethes Umdeutung des griechischen Stoffes Seine bewusste Aktualisierung im Geist der Aufklärung ist nun in der Tat ganz verteufelt human und weit prekärer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, weil Goethe nun eben auch die Taurer ernst nimmt, speziell ihren König Thoas, der letztlich eine ethisch weit höherrangige Leistung vollbringt als Ephigenie. Thors, der König der Taurer, hat Iphigenie die freie Heimreise für den Fall zugesichert, dass sich eine Gelegenheit dazu bietet. Weil damit aber keinesfalls zu rechnen ist, verlangt er die Priesterin zur Gattin und weist sich darin im vollen Recht eines Königs. Nun aber ist Orest mit Pylades und weiteren Griechen auf Tauris gelandet, das Goethe zu einer Insel gemacht hat.

Die Taurer können die Fremden gefangen nehmen und der von Ephigenie abgewiesene Thoas verlangt im Gegenzug, dass die Priesterin das zwischenzeitlich suspendierte Gesetz wieder praktiziert, demzufolge Fremde unverzüglich zu töten sind. Orest begreift, dass es sich bei der Artemis-Priesterin um die eigene Schwester Ephigenie handelt und ergibt sich ihr zu erkennen. Zwischen uns sei Wahrheit.

Dass der Blankvers hier verkürzt ist, bestätigt das Pathos dieser Wiedererkennung, die ein elementares Formprinzip der artischen Tragödie darstellt. Orestes Begleiter Pyladesch mietet daraufhin einen Fluchtplan, dem Iphigenie mit schlechtem Gewissen zustimmt. Sie muss Thoas täuschen, um Zeit zu gewinnen, bringt die Lüge dann aber doch nicht übers Herz und gesteht Thoas das Vorhaben der Griechen. Ja, vernimm, o König, es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet.

Dieses Geständnis erweist sich augenblicklich als die Rettung, da die Flucht ohnehin schon entdeckt und militärisch unterbunden ist. Die Anwesenheit der Griechen auf Taurus zeigt sich jedoch als die unerwartete Gelegenheit zu Iphigenies Rückkehr nach Griechenland. Und Goethe lässt Iphigenie nun ihre moralisch überlegene Position in aller Drastik ausspielen.

Thors hat natürlich die Macht und eigentlich auch das Recht, die Griechen zu bestrafen. Da er Iphigenie aber die freie Heimkehr versprochen hat, kann sie diesen Zugzwang genau auf den Punkt bringen. Verderb uns, wenn du darfst. Natürlich darf Thoas die Griechen eben nicht verderben, wenn er seinem eigenen Wort treu bleiben will.

Was Iphigenie daraufhin mit ihm macht, ist gewissermaßen eine moralische Erpressung. Thoas kann ja gar nicht anders, als das Sittengesetz zu respektieren, das Versprechen zu halten sind, zumal ohnehin über allem diejenige Verpflichtung auf Menschlichkeit steht, der sich die scheinbar ethisch überlegenen Griechen bislang noch nie gefügt haben. Iphigenie lässt Thors insofern keinen Ausweg, weil sie, strikt modern denkend, Humanität als jedem Menschen angeborene Sittlichkeit behauptet, die daher auch für Barbaren verpflichtend sein muss. Zwangsläufig fügt sich Thors dieser Logik und geschieht den Griechen zu, Taurus unbehelligt zu verlassen. So geht.

Iphigenie ist damit aber nicht zufrieden, sondern verlangt noch mehr. Nicht so, mein König. Ohne Segen, in Widerwillen scheide ich nicht von dir. Thoas muss nicht nur resignieren, sondern er soll darüber hinaus auch noch wollen, dass Iphigenie und die anderen Griechen sein Land verlassen.

Er muss also freiwillig auf Iphigenie Verzicht tun, obwohl er jede Macht hätte, ihre Abreise zu verhindern. Mithilfe einer nicht unbedingt zwingenden Umdeutung des Orakels gelingt es letztlich, Thoas sein Einverständnis abzuringen. Lebt wohl.

Dass das erneut ein extrem verkürzter Blankvers ist, weil Thoas gewissermaßen das Wort im Munde stockt, ist bezeichnend genug. Iphigenie braucht das Wohlwollen des Taurakönigs, der sie aus freien Stücken freigebt. Eben weil er seine entsprechende Verpflichtung Kraft des Sittengesetzes einsieht und eben auch, weil nur so der Fluch über dem Tantalidengeschlecht durchbrochen wird.

Zum ersten Mal wird eine Gewalttat vermieden. Die Einigung kommt friedlich zustande. Das ist eine zweifellos humane Lösung, weil es bei Goethe keines Gottes mehr bedarf, der mit höherer Gewalt für die Entscheidung sorgt. In Goethes »Iphigenia auf Taurus« kommt es allein in menschlicher Vernunftfreiheit zum glücklichen Ausgang.

Und in dieser Hinsicht weicht Goethe geradezu drastisch von allen früheren Stoffbearbeitungen ab. Verteufelt human ist dieser Ausgang freilich aus dem Grund, dass es so offensichtlich asymmetrisch zustande kommt. Die Griechen erlangen alles, was sie wollen.

Iphigenies Unfähigkeit zur Lüge hat sich insofern rentiert. Für seine Sittlichkeit zu bezahlen hat demgegenüber nur Thoas, dem nichts bleibt als höchstens die Gewissheit seiner Moralität. Neben der schönen, weil bruchlosen Ethik weiblicher Wahrheitsliebe, gilt es also die erhabene Ethik nicht zu vergessen, in der Thoas auf all das, was ihm lieb ist, Verzicht leisten muss.

Die männliche Sittlichkeit des barbaren Thoas ist insofern eine Sittlichkeit, die im Widerstreit von Pflicht und Neigung entsteht, und sie unterscheidet sich darin sehr gründlich von der weit bequemeren, eindimensionalen Moralität Iphigenies. Das Potenzial des ästhetischen Paradigmenwechsels um 1800, das heißt der Abgrenzung gegen die Aufklärung, ist mit der Frühromantik und der Weimarer Klassik noch lange nicht erschöpft. Was danach im Zeichen des Realismus geschieht, lässt sich vielmehr bestens als Weiterführung der Romantik mit dann freilich anderen Mitteln erklären.