So geht das nicht weiter. Du musst mal der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und ein wenig realistisch sein. Klar, solche Ermahnungen kennen wir. Aber keine Sorge, heute legen wir uns nicht auf Dr. Freuds Psychokausch, sondern wir sehen der literarischen Epoche des Realismus ins Gesicht. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so zwischen 1850 und 1890. Damals änderte sich die Lebenswelt für die meisten Europäer dramatisch durch die Evolutionstheorie, durch die Art und Weise, wie man Wissenschaft betrieb, dadurch, dass der Einfluss der Kirche stark zurückging, durch die Industrialisierung, die Verstädterung, dadurch, dass die Arbeiter in ganz schlimmen Verhältnissen leben mussten und ausgebeutet wurden, durch die Verarmung vieler Menschen, durch den Aufstieg des Bürgertums.
Da blieb natürlich auch die Literatur nicht von verschont. Das Romantische, das Idyllische, die Gefühlsduselei, das war out. Angesagt war die harte Wirklichkeit.
Aber es wäre ja viel zu einfach, Wenn es beim literarischen Realismus nur um eine wirklichkeitsgetreue Abbildung der Welt gehen würde. Jetzt meint ihr vielleicht, dass es dann doch nahe liegt, das schlimme Schicksal, zum Beispiel der armen Arbeiter, zu beschreiben? Nein, das macht der bürgerliche Realismus nicht. Es geht nicht darum, die schreckliche Wirklichkeit schonungslos darzustellen. Man konzentriert sich auf das Ideal, auf die Wahrheit, die in den Dingen liegt.
Theodor Fontane sagt, der Dichter ist wie ein Bildhauer, der aus einem Block Marmor etwas herausarbeitet. Das Kunstwerk steckt sozusagen im Marmorblock drin. Es ist also nicht damit getan, dass der Künstler hingeht und den Marmor anschaut und ihn dann beschreibt, so kalt, glatt, kantig und so weiter. Nein, er muss das herausholen, was drinnen steckt.
Aber er tut das, indem er das Material erst ganz genau ansieht, also es realistisch betrachtet. Realistisch zu schreiben heißt also, so zu schreiben, wie es sein könnte, nicht wie es ist. Es wäre ja auch gar nicht möglich, das Leben genauso zu beschreiben, wie es ist.
Wir erkennen ja nicht alles, sondern immer nur einen Ausschnitt. Und der realistische Autor entwirft ein stimmiges, schlüssiges Bild von der Welt. Die Geschichte soll so geschrieben sein, wie sie sich wahrscheinlich ereignen würde.
Das Geschehene sollte glaubwürdig sein. Die Autoren versuchen, die Wirklichkeit mit literarischen Mitteln zu verarbeiten. Das Innere und das Äußere spiegeln sich gegenseitig wider.
Der Bezugsrahmen ist die bürgerliche Gesellschaft. Es geht vor allem auch um gesellschaftliche Verhältnisse. Das Bildungsbürgertum grenzt sich ab vom Adel und auch dem Proletariat, also den Arbeitern.
Die Dichter halten das bürgerliche Bildungsideal hoch. Und man reibt sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Man fragt sich, wie der Mensch in der unbarmherzigen Welt seine Menschlichkeit bewahren kann.
Wie kann der Einzelne in dieser Massenwelt, die immer einheitlicher und geregelter wird, seine Individualität bewahren? Also, es wird keine Idylle gezeigt. Und die Autoren wissen natürlich, dass die Welt anders ist, als von ihnen realistisch beschrieben.
Aber die Autoren wollen sich auch nicht einmischen. Sie stellen ja etwas dar, das so passieren könnte. Und die Leser sollen sich selbst darüber eine Meinung bilden.
Deswegen enthalten sich die Autoren einer Wertung. Aber das ist ja eigentlich unmöglich, ohne zu werten, Kritik zu üben. Und diesen Gegensatz versuchen sie zu überbrücken, zum Beispiel mit Ironie und Humor. Kritik humorvoll zu verpacken, das ist eine bewährte Sache. Aber wenn sich die Welt halt nicht ändern will, dann schlägt der Humor erst um in Sarkasmus, also in ganz ätzende Kritik, die schon gar nicht mehr lustig ist.
Und dann wird man pessimistisch. Man erwartet schon gar nicht mehr, dass sich etwas bessert. Die Autoren in der Zeit des Realismus werden auch immer pessimistischer, schreiben immer düsterer.
Wenn wir uns den Schreibstil ansehen, dann merken wir, dass die Sprache nicht kompliziert ist, sondern klar und schlicht. Das ist wichtig, denn der Leser soll unmittelbar teilhaben können. Es kommen wenige Personen vor und meistens spielen die Geschichten in einem überschaubaren Rahmen, in einem Dorf zum Beispiel oder einem Tal.
Wichtige Autoren und Werke aus der Zeit des Realismus sind Jeremias Gotthelf, die schwarze Spinne, Theodor Storm, Pole Poppenspäler, Gottfried Keller, der grüne Heinrich, Theodor Fontane, Effi Briest, Konrad Ferdinand Meyer, der römische Brunnen, Wilhelm Rabe, die schwarze Galere. Ich persönlich mag es ja ganz gerne realistisch. Wie ist das bei euch? Schreibt das doch mal in die Kommentare.
Und dann schaut unbedingt wieder rein bei der nächsten Folge Musste wissen Deutsch. Bis dahin einen Daumen nach oben, wenn es euch gefallen hat und den Kanal abonnieren. Bis dann, tschüss.